Die Einwohner der russischen Grenzregion Belgorod machen schwere Tage durch: Strom- und Wasserversorgung sind unterbrochen, seit die Ukraine ein Umspannwerk zerstört hat. Obendrein fallen immer wieder Bomben aus russischen Flugzeugen auf das eigene Territorium, wobei unklar bleibt, ob das auf unsachgemäße Handhabung, mangelnde Ausbildung oder technische Probleme zurückzuführen ist, wie die in Amsterdam erscheinende "Moscow Times" unter Berufung auf russische Blogs meldet. Fest steht: Belgorod wird täglich von Dutzenden Drohnen beschossen, mangels Strom müssen zeitweise fahrbare Lautsprecher eingesetzt werden.
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Den Rentnern in Belgorod wurden Feuerlöscher spendiert, was laut Netzkommentaren nicht gut ankam: "Vielleicht wollen unsere Beamten aus statistischen Gründen prüfen, wie geschickt 80-Jährige mit den ihnen ausgehändigten Geräten, sowie Schaufeln usw. umgehen? Warum haben wir Russen unsere Regierung derart verärgert, dass sie zu keinem Zeitpunkt wirklich darüber nachdenkt, wie und womit sie uns vor feindlichen Angriffen schützen und deren Folgen möglichst effektiv beseitigen könnte?"
Die Empörung ist auch in der regionalen Wirtschaft groß: Die Behörden empfahlen den Eigentümern von zerbombten Fabriken, sich Drohnenabwehrkanonen anzuschaffen und selbst um die Luftabwehr zu kümmern.
"Irgendwie steigt die Besorgnis"
Offiziell lässt der Kreml mit Hilfe der ihm ergebenen Meinungsforscher verbreiten, die Bevölkerung gräme sich kein bisschen über den Kriegsverlauf. Tatsächlich sehen es viele populäre Blogger anders: "Es erinnert rein gesellschaftspolitisch an einen schwülen Nachmittag, an dem alle zu faul sind, überhaupt nachzudenken, geschweige denn einen Finger zu rühren." Doch plötzlich surrten unangenehme Nachrichten "wie lästige Mücken" in der Luft: "Nichts ist eindeutig, aber irgendwie steigt die Besorgnis. Hier kommt ein interessanter Effekt ins Spiel. Unsere Leute glauben größtenteils nicht, dass die Ukraine anfangen wird, verstärkt auf russische Städte zu schießen, abgesehen von Belgorod. Doch längst weiß jeder: Wenn uns die staatliche Propaganda von etwas überzeugen will, dann muss man sich auf das Gegenteil einstellen."
Ähnlich die Einschätzung von Dmitri Drise, dem Kolumnisten des liberalen Wirtschaftsblatts "Kommersant": "Insgesamt besteht das Problem in der allgemeinen Verunsicherung. Niemand weiß wirklich, wie es weitergeht, aber besser wird es nach allgemeiner Ansicht definitiv nicht. Und wenn ja, ist schwer zu sagen, wann."
Für den Kreml sind solche Bestandsaufnahmen besonders bitter, seit Putin auf mehreren Pressekonferenzen ankündigte, eine "Sicherheitszone" auf ukrainischem Gebiet schaffen zu wollen, damit die Russen vermeintlich geschützt seien vor ukrainischen Luftangriffen: "Daraus mache ich kein Geheimnis", so der russische Präsident am 20. Juni. Damit begründete er den – inzwischen gestoppten – Vormarsch auf die ukrainische Großstadt Charkiw, etwa vierzig Kilometer von der Grenze entfernt. Er fügte zwar an, es sei "sehr schwierig", Vorhersagen zu machen, aber er habe das Gefühl, die Ukraine wolle die russischen Einheiten "um jeden Preis" bis zur Staatsgrenze zurückdrängen: "Mal sehen, was tatsächlich geschieht."
"Evakuierung beschleunigen"
Bei seinem Besuch in Peking Mitte Mai hatte Putin ebenfalls seine sattsam bekannte Propaganda wiederholt und versucht, den Angriff auf Charkiw als "Notwehr" auszugeben. Gemessen an früheren Äußerungen von einer "Entnazifizierung" und "Entmilitarisierung" der gesamten Ukraine, erschien Putins Botschaft geradezu als Leisetreterei: "Was in dieser Richtung geschieht, ist ihre eigene Schuld, denn sie haben Wohngebiete in den Grenzgebieten, darunter auch Belgorod, beschossen und setzen das leider auch weiterhin fort. Es ist offensichtlich, dass dort Zivilisten sterben. Sie schießen mitten ins Stadtzentrum, in Wohngebiete. Ich habe öffentlich gesagt, dass wir gezwungen sein werden, einen Sicherheitskorridor, eine 'Sanitärzone', zu schaffen, wenn das so weitergeht. Das ist genau das, was wir machen."
"Die Situation ist kritisch!"
Ob das gelingen kann, erscheint russischen Ultra-Patrioten wie Igor Skurlatow (380.000 Fans) allerdings mehr als fraglich: "Es ist unmöglich, Belgorod mit einer 'Sanitärzone' von 10 km vor feindlichen Langstreckenraketen zu schützen. Ich schlage vor, damit aufzuhören, alle Medienschaffenden, Politiker und Journalisten zu belügen und weitere Trugbilder in die Luft zu malen über Erfolge oder Hoffnungsschimmer auf eine schnelle Beilegung des Krieges durch Trumps Sieg. Die Situation ist kritisch! Entweder müssen wir die Bürde der Abwehr westlicher Globalisten an der Front und im Hinterland auf alle Zeit ertragen, oder wir werden gewinnen!"
Makabrerweise steigern sich Skurlatow und seine rechtsextremen Gesinnungsgenossen damit in politische Fieberträume, wie sie die Nationalsozialisten heimsuchten [externer Link]: SS-Chef Heinrich Himmler fantasierte von einer immerwährenden, blutigen "Wehrgrenze" im Osten, an der sich ein Rekruten-Jahrgang nach dem anderen bewähren sollte: "Dann werden wir niemals verweichlichen, dann werden wir niemals Uniformträger bekommen, die nur deshalb zu uns kommen, weil es vornehm ist und weil der schwarze Rock im Frieden natürlich sehr anziehend sein wird. Dann werden wir eine gesunde Auslese für alle Zukunft haben."
"2.000 russische Familien warten auf Evakuierung"
Militärblogger Roman Aljechin (132.000 Fans) zweifelt gleichermaßen an Putins "Sicherheitszone" . Er fürchtet, dass Putin schon bald russische Landsleute aus dem eigenen Grenzgebiet evakuieren muss, weil die Reichweite ukrainischer Drohnen stetig wachse: "In diesem Zusammenhang ist es natürlich notwendig, dass die Bundeszentrale die Finanzierungsprogramme für die Umsiedlung von Menschen aus unseren Grenzgebieten beschleunigt. Allein in der Region Kursk stehen seit langem fast 2.000 Familien auf der Warteliste für eine Evakuierung, allerdings ist die eigentliche Nachfrage viel höher, da ein Teil der Bevölkerung angesichts der Länge der Warteliste nicht mehr ernsthaft an eine Umsiedlung glaubt. Damit wird die Region auf Dauer nicht zurechtkommen, zumal Kursk schon vor dem Krieg subventioniert werden musste."
"Feind entdeckt unsere sensiblen Bereiche"
Putin werde in grenznahen russischen Regionen ein "Niemandsland" einrichten müssen, das nur von Soldaten betreten werden dürfe, sagt Aljechin voraus: "Wir müssen zugeben, dass eine 'Sanitärzone' in Form eines Korridors, durch den feindliche Granaten nicht fliegen, reine Fantasie ist. Und wenn wir über einen Krieg mit der NATO sprechen, dann wäre die gesamte Ukraine eine Sicherheitszone." Russland müsse also weiterkämpfen, bis Kiew vollständig besiegt sei.
Angeblich warfen ukrainische Drohnen bereits Flugblätter über Belgorod ab, worin Putins "Sanitärzone" ironisiert worden sein soll. Demnach sollen die russischen Einwohner ukrainische Flaggen hissen, als Erkennungszeichen für einen "Sicherheitskorridor" – der demnach aber auf russischem Territorium liegen würde. Tatsächlich war eine Hauseigentümerin in Belgorod heftig kritisiert worden, weil sie nach Ansicht von Kreml-Propagandisten ihr mehrfach beschossenes Anwesen mit einer vermeintlich ukrainischen "Fahne" schützen wollte. Die so Gescholtene behauptete daraufhin, ihr beschädigtes Dach sei "versehentlich" mit blauen und gelben Plastikplanen bedeckt gewesen.
Auch andere Blogger missbilligen, dass der russische Generalstab bislang wenig unternimmt, den "Korridor" wirklich freizuräumen. Starblogger und TV-Journalist Alexander Kots schreibt nach dem jüngsten Stromausfall in Belgorod zähneknirschend: "Der Feind entdeckte die sensiblen Bereiche unserer grenznahen Energieversorgung und knipste uns in mehreren Regionen das Licht aus. Ich bin zuversichtlich, dass die Stromversorgung schnellstmöglich wiederhergestellt wird. Wir haben immer noch eine viel bessere staatliche Infrastruktur als unsere Nachbarn. Und es gibt deutlich mehr Möglichkeiten, Energie umzulenken."
"Westen wird Ausbreitung nicht zulassen"
Kots nimmt die Schadenfreude aus Kiew grimmig zur Kenntnis: "Sie hatten im vergangenen Jahr nicht viel Grund zum Jubeln, sie freuen sich schon über wenig." Wütend weist er im Netz aufkeimende russische Selbstzweifel zurück, wonach die Ukraine lediglich "Vergeltung" übe: "Kiew handelt nie reagierend, sondern hält sich ausschließlich an seine technischen Möglichkeiten." Diese Propaganda wirkt allerdings zunehmend hilf- und ratlos, was weniger kremltreue Blogger auch einräumen.
"Die Ukraine verfügt nicht über viele Instrumente, um ihre grenznahen Siedlungen vor russischen Flugzeugen zu schützen", so ein Beobachter mit 510.000 Fans: "Die Schaffung einer 'Sanitärzone' auf dem Territorium der Russischen Föderation ist eines davon, und wie wir sehen, ist die ukrainische Armee dabei, das in die Tat umzusetzen. Die russische Armee hat nicht das Potential, Charkiw und ähnliche Großstädte anzugreifen. Darüber hinaus hat der Westen bewiesen, dass er nicht zulassen wird, dass sich der Konflikt über die fünf grenznahen Regionen hinaus ausbreitet, was passieren würde, wenn die russischen Streitkräfte in Richtung Charkiw vorrückten."
"Alle knickten ein – niemand leistete Widerstand"
Der frühere russische Politiker und jetzige nationalistische Blogger Alexander Chodakowski gibt sich denkbar pessimistisch, was Putins militärische Möglichkeiten betrifft: "Die Schlinge zieht sich zu. Der Westen hat es auf unseren Bankensektor und unsere internationale Zahlungsfähigkeit abgesehen. Unter Druck gerieten die Türken, die Chinesen und unser gesamtes Umfeld, aus dem der größte Zustrom 'kompetenter Fachkräfte' zu uns kommt. Alle knickten ein – niemand leistete Widerstand. Das wird unsere Situation verkomplizieren und Auswirkungen auf die Importe haben, da deren Ersatz nicht über Nacht zu bewerkstelligen sein wird."
Chodakowski sagte seinen Landsleuten schlimme Zeiten voraus: "Selbst diejenigen, die bisher glaubten, dass sie der Krieg nichts angehe, werden seinen Einfluss zu spüren bekommen. Wenn wir dieses Spiel gewinnen wollen, müssen wir unsere ganze Durchhalte- und Kampffähigkeit unter Beweis stellen und uns darüber im Klaren sein, dass der Preis einer Niederlage sehr hoch sein wird."
Putin wurde vor Journalisten kürzlich noch deutlicher, was die Konsequenzen des möglichen Scheiterns betrifft: "Was bedeutet das für Russland? Für Russland bedeutet dies das Ende seiner Staatlichkeit. Dies bedeutet das Ende der tausendjährigen Geschichte des russischen Staates. Ich denke, das ist jedem klar. Und dann stellt sich die Frage: Warum sollten wir Angst haben? Ist es dann nicht besser, bis zum Ende zu gehen?"
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