"Ich kann es nicht begreifen. Ich weine. Ich begreife einfach nicht." Ziemlich genau sechs Jahre ist es her, seit sich Neguss A. mit dieser Sprachnachricht an den Bayerischen Rundfunk gewandt hat. Damals, im Herbst 2018, wird er in seine Heimat abgeschoben. Nach Äthiopien. "Es tut weh", sagt er heute, wenn er zurückblickt.
Geflohen aus Angst
Mittlerweile ist Neguss 40 Jahre alt. 2012 floh er zum ersten Mal aus Äthiopien nach Deutschland. Der Konflikt zwischen der äthiopischen Zentralregierung und der Region Tigray, zu der Neguss gehört, spitzte sich damals zu. "Die hassen uns", sagt Neguss. "Uns, unsere Sprache, alles."
In Deutschland studiert er dann, macht den Bundesfreiwilligendienst und gewinnt dafür einen Integrationspreis. Doch weil die Behörden seinen Asylantrag ablehnen, wird er 2018 wieder nach Äthiopien abgeschoben, obwohl er sogar eine Stelle beim UN-Hilfswerk UNICEF bekommen hätte.
Arbeitsvisum muss in der Heimat beantragt werden
Das Problem: In Deutschland ist gesetzlich vorgeschrieben: Der, dessen Asylantrag abgelehnt wird, muss ein Arbeitsvisum beantragen. In der deutschen Botschaft seines Heimatlandes. Heißt: Die Ausreise ist immer Pflicht.
Flüchtlingsrat: "Absoluter Wahnsinn"
Johanna Böhm vom bayerischen Flüchtlingsrat, einer Organisation für "Geflüchtetensolidarität", kennt solche Fälle. Sie beobachtet die Argumentation der Behörden kritisch: "Die sagen: 'Schön, dass du das machen willst. Wir brauchen die Leute auch auf dem Arbeitsmarkt. Aber du kamst hier her als geflüchtete Person. Du bist ausreisepflichtig, wir wollen von dir, dass du in dein Herkunftsland ausreist, dort zur deutschen Botschaft gehst, dort den Visumsantrag stellst und dann irgendwann mit dem Visum wieder einreist.'" Böhm nennt diese Praxis "absoluten Wahnsinn".
Asylverfahren nur zum Schutz
Das Bayerische Innenministerium, in diesem Fall zuständig, weist die Kritik dagegen zurück. Eine Sprecherin stellt auf BR24-Anfrage klar, das Asylverfahren diene dem Schutz vor Krieg und Verfolgung "und nicht der Behebung eines Arbeits- und Fachkräftemangels".
Die einzige Möglichkeit für abgelehnte Asylbewerber, einen Job in Deutschland zu bekommen, sei noch immer die "freiwillige Ausreise und das anschließende Durchlaufen eines Visumverfahrens". Eine Katastrophe für Betriebe, die gerne integrationswillige Flüchtlinge einstellen wollen, kritisiert der kirchliche Flüchtlingshelfer Stephan Theo Reichel von "Matteo – Kirche und Asyl". Reichel berichtet von einem Schreinermeister aus Nördlingen, der kurz vorher bei ihm vorstellig wurde. Der Mann habe "tausende Euro bezahlt, damit er seinen Lehrling, den er bereits ausgebildet hat, behalten durfte. Der musste nach Guinea ausreisen unter großer Gefahr, ist dort auch überfallen und bestohlen worden, und kam dann erst nach Monaten zurück."
Neustart mit Schulden
Und Neguss? Braucht nach seiner Abschiebung sechs Jahre, um nach Deutschland zurückzukehren. Der Bürgerkrieg in Äthiopien und die deutsche Bürokratie verhindern eine schnellere Rückkehr. "Ich wollte nicht aufgeben", sagt Neguss: "Ich glaube an drei Dinge: Ich bin fest an die deutsche Kultur angepasst. Ich kann Deutsch sprechen, ich habe eine Möglichkeit zu arbeiten. Warum sollte ich aufgeben?"
Jetzt beginnt er in Erlangen eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Allerdings mit Schulden: Mehr als 22.000 Euro muss er an die Bundesrepublik zahlen. So viel hat seine Abschiebung gekostet. Und für die, so will es das deutsche Gesetz, muss er selbst aufkommen.
Mehr zu diesem Thema hören Sie heute (20.11.) um 12:17 Uhr in der Sendung "Funkstreifzug" im Radioprogramm von BR24. Den Funkstreifzug gibt es auch als Podcast. Die neue Staffel des BR-Podcasts "Die Entscheidung" widmet sich der deutschen Asylpolitik.
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