Ein altes Foto einer Frau mit Medaillon war lange Zeit ein Rätsel in der Familie von Silas Ubrich. Erst durch Nachforschungen mithilfe seines Onkels deckt Ubrich das düstere Familiengeheimnis auf: Seine Urgroßmutter Emma Zipfel wurde während der NS-Zeit in der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt untergebracht. "Sie war ein sehr herzlicher Mensch. Jemand, der gern in den Arm genommen hat, gedrückt hat", sagt Ubrich.
Emma Zipfel wurde ermordet.
Ein Foto enthüllt ein Familiengeheimnis
Im Nürnberger Stadtarchiv findet Ubrich eine Patientenakte mit dem Foto seiner Urgroßmutter. Sie wird 1933 wegen Depressionen in die damalige Reformklinik für psychisch kranke Menschen in Erlangen eingewiesen.
Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ändert alles: Der Rassenwahn der NS-Ideologie teilt Menschen in "wertes" und "unwertes" Leben auf. Zu Letzterem zählen auch mentale Erkrankungen. "Unwertes Leben soll durch Gnadentod beendet werden", heißt es im NS-Jargon.
Auf der Todesliste der NS-Ärzte
Als sich Emma Zipfels Gesundheitszustand nicht bessert, diagnostizieren die Ärzte Schizophrenie und erklären sie für arbeitsunfähig. "Sie kam auf diese Liste, weil die Ärzte sie für nicht lebenswürdig einstuften", erklärt Ubrich dem BR-Politikmagazin "Kontrovers". Es war eine Todesliste mit insgesamt 905 Patienten aus Erlangen.
Emma Zipfel wird nach Schloss Hartheim gebracht und dort mit Gas ermordet.
Tod durch bewusste Mangelernährung
Etwa 1.000 weitere Patienten werden damals direkt in Erlangen umgebracht, indem man sie auf die sogenannte "Hungerstation" verlegt. Dort erhalten sie "B-Kost" – eine unzureichende Ernährung ohne Fett, Fleisch und mit nur wenigen Kohlenhydraten. "Das hat natürlich nicht ausgereicht, um zu überleben", erklärt Sabrina Freund vom Forschungsprojekt NS-Euthanasie Erlangen.
"Mich quält Tag und Nacht der Hunger"
Freund berichtet von einer Patientin, die 1943 an ihren Bruder schrieb: "Mich quält Tag und Nacht der Hunger." Die Postkarte wird jedoch nie zugestellt, die Frau verhungert.
Diese Karte ist Zeugnis ihres Leids. Dennoch werden die Verantwortlichen auch nach Kriegsende nicht zur Rechenschaft gezogen. "In Erlangen gab es keine Verurteilungen", bestätigt Freund. Ärzte und Pfleger vertuschen die Kranken-Morde. Entweder habe es wegen mangelnder Beweisführung Fälle eingestellter Verfahren gegeben, "oder eben Freisprüche".
Verantwortung: Vergessen und verdrängt?
Nach Kriegsende wird die Heil- und Pflegeanstalt weiter als Klinik genutzt: Die Euthanasie-Verbrechen an den Patienten geraten in Vergessenheit, eine Aufarbeitung bleibt damals aus. Erst durch das Engagement von Werner Lutz vom Aktionsbündnis "Hupfla erhalten – Gedenken gestalten" und anderen Bürgern kommt Bewegung in die Sache. "Das gehört zu einer Stadt, dass man sich darum kümmert, dass man die Geschichte aufarbeitet", sagt Lutz. "Und wenn es so eine Geschichte ist wie mit der Euthanasie, dann ist es auch eine Verpflichtung."
Umdenken nach dem Abriss: Kommt der Gedenkort?
Trotz Bürgerprotesten wird 2023 ein Großteil der historischen Anstalt abgerissen. Inzwischen plant man jedoch einen Lern- und Gedenkort. Professor Christoph Safferling von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) hat dazu eine Machbarkeitsstudie vorgestellt, die Tagungs- und Theaterräume, Forschungszentren und ein Inklusions-Café vorsieht.
Das Konzept will auch dem Unbeschreiblichen Tribut zollen: "Es gibt einen Stille-Raum, wo das Gedenken möglich ist", erklärt Safferling. Wie viele Menschen hier ihrer Verstorbenen gedenken werden, ist allerdings ungewiss. "Gerade wegen dieser Vertuschungsaktionen, die hier gelaufen sind, wissen viele Familien gar nicht, dass sie Angehörige hatten, die hier ermordet worden sind", erläutert der Professor im "Kontrovers"-Beitrag.
Stockende Anerkennungen noch nach 80 Jahren
Noch wird es dauern, bis das Projekt hier tatsächlich Gestalt annimmt. Unterdessen sind es in Erlangen weiterhin die Angehörigen, die sich darum bemühen, dass die Verbrechen an Menschen wie Emma Zipfel nicht in Vergessenheit geraten.
Silas Ubrich engagiert sich in der Gedenkinitiative für die "Euthanasie"-Opfer. "Wichtig ist, dass wir uns immer und immer wieder an diese Dinge erinnern. Denn wenn wir uns nicht erinnern, dann können diese Ereignisse wieder eintreten", mahnt er.
Für Angehörige wie ihn kommt die Aufarbeitung auch 80 Jahre nach Kriegsende noch viel zu langsam voran. Denn: Menschen wie seine Urgroßmutter Emma Zipfel gelten erst seit Januar nach der Anerkennung durch den Deutschen Bundestag offiziell als Opfer des NS-Regimes.
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