Am heutigen Samstag jährt sich zum 86. Mal die sogenannte Reichspogromnacht. In Gedenkfeiern, Gottesdiensten und Veranstaltungen wird an die Opfer jüdischen Glaubens erinnert. Am 9. November 1938 hatte sich fast die gesamte NS-Elite abends im Alten Rathaus versammelt, zum Gedenken an den missglückten Hitler-Putsch von 1923. Propagandaminister Joseph Goebbels hielt eine hasserfüllte Rede gegen das, wie er sagte, "internationale Judentum". Es war das Signal für eine Hetzjagd auf Juden in ganz Deutschland.
Synagogen brennen und Geschäfte werden geplündert
Noch in derselben Nacht brannten Synagogen. Jüdische Geschäfte, Einrichtungen und Wohnungen wurden systematisch zerstört und geplündert. Menschen wurden ermordet oder durch die Gewaltaktionen in den Suizid getrieben. Allein in München wurden mehr als 1.000 Männer ins KZ Dachau verschleppt und dort gedemütigt und gequält. 24 dieser sogenannten "Aktionshäftlinge" wurden im Lager ermordet oder starben an den Folgen der Misshandlungen.
Szenen der Gewalt auch in Kleinstädten
Auch im ländlichen Oberbayern folgten die Nazis in Kleinstädten dem Aufruf der NSDAP-Führung zur kollektiven Mord-, Brandstiftungs- und Vertreibungsaktion von Jüdinnen und Juden. Etwa in Traunstein, wo das Schicksal der jüdischen Familie Holzer in jener Nacht besiegelt wurde. "Zwischen 30 und 50 Nazis der NSDAP-Sturmabteilung (SA) und vermutlich auch die Hitlerjugend skandierten 'Holzers raus aus Traunstein'; der Tumult um das Haus war sehr groß, es ist auch ein Schuss gefallen und es wurden Fenster zertrümmert", berichtet der Traunsteiner Historiker Friedbert Mühldorfer.
Die Vertreibung der jüdischen Familie Holzer aus Traunstein
Die Familie brach Hals über Kopf nach München auf und fand zunächst Unterschlupf bei Verwandten. Bis auf eine Tochter, Clara, wurden bis 1943 alle Familienmitglieder in Konzentrationslagern ermordet: Willy, Ludwig, Benno, Hedwig, Alfred, Martha, Cilly, Wilhelm und Max. Das Schicksal der Familie Holzer und anderen Jüdinnen und Juden ist jetzt im Buch "Aus Traunstein freiwillig verzogen… Die Vertreibung der jüdischen Familie Holzer in der Pogromnacht 1938" von Friedbert Mühldorfer nachzulesen. Fast 20 Jahre lang hat er nach den Spuren der Holzers gesucht, aus Fotos, Behördenakten und Berichten von Verwandten fügt sich jetzt ein Bild zusammen.
Gedenkakt "Jeder Mensch hat einen Namen"
In München findet der Gedenkakt "Jeder Mensch hat einen Namen" statt. Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr im Alten Rathaus und damit an einem historischen Ort.
Die zentrale Gedenkrede zum Thema "Antisemitismus als Selbstverleugnung" hält Armin Nassehi vom Lehrstuhl für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität. Außerdem sprechen Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) und Charlotte Knobloch, die Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Der Gemeinderabbiner Shmuel Aharon Brodman spricht ein Gedenkgebet.
Dieses Jahr wird bei der Gedenkveranstaltung besonders an das Schicksal von jüdischen Verfolgten aus dem Landkreis Freising erinnert, die größtenteils über München deportiert und dann ermordet wurden. Schülerinnen des Camerloher-Gymnasiums Freising werden ihre Namen und Kurzbiographien, aber auch Auszüge z.B. aus Briefen vortragen und den Abend auch musikalisch begleiten. Die Veranstaltung wird auch online auf der Homepage des NS-Dokuzentrums übertragen [Externer Link: www.youtube.com/nsdoku].
Weitere Gedenkveranstaltungen finden heute (Samstag) am Oertelplatz (15 Uhr), am Gärtnerplatz (17 Uhr) und auf dem Platz der Menschenrechte (18 Uhr) statt. Im Kulturzentrum Giesinger Bahnhof wird das "Gedenkbuch für die Opfer der Shoah aus Giesing und Harlaching" vorgestellt (18 Uhr). Am Kaufhaus Oberpollinger – also am Standort der früheren Hauptsynagoge – werden von 18 bis 22 Uhr (auch am Sonntag) historische Fotos und digitale Eindrücke auf die Fassade projiziert.
Im Video: Münchner erinnern an die Pogromnacht von 1938
Weitere Gedenkveranstaltungen am Wochenende
In den nächsten Tagen folgen weitere Gedenkveranstaltungen. Unter anderem werden am Sonntag Erinnerungszeichen für Marjem und Chaim Both sowie Malwine Porsche angebracht - gegen 12.45 Uhr am ehemaligen Wohnsitz und Geschäft in der Lindwurmstraße 185. Markus Lutz, Vorsitzender des Bezirksausschusses 6 (Sendling), spricht vor Ort. Um circa 13.30 Uhr erfolgt die Anbringung der Erinnerungszeichen für Malwine Porsche am ehemaligen Wohnsitz in der Akademiestraße 19. Vor Ort spricht Dr. Svenja Jarchow-Pongratz, Vorsitzende des Bezirksausschusses 3 (Maxvorstadt). In der bayerischen Landeshauptstadt erinnern mittlerweile rund 200 Gedenktafeln und Stelen an Menschen, die von den Nazis verfolgt und ermordet wurden.
In der KZ-Gedenkstätte Dachau wird am Sonntag um 11 Uhr ein Rundgang angeboten, um 13 Uhr organisiert die DGB-Jugend Bayern eine Gedenkveranstaltung "Erinnern heißt kämpfen", und am Montagabend um 19 Uhr ist im Stockmann-Saal in Dachau eine Gedenkveranstaltung. Daran wird auch Cora Wallach Sanches aus Brasilien teilnehmen. Sie ist die Urgroßenkelin von Julius Wallach, der aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammte und der Verfolgung durch die Nazis nur durch seine Flucht ins Ausland entkam.
Gedenken an Pogromnacht in Starnberg, Rosenheim und Miesbach
Die Stadt Starnberg erinnert am Samstag (09.11.) gemeinsam mit dem Starnberger Dialog an die Reichspogromnacht vor 86 Jahren. Um 17 Uhr findet zunächst eine Kundgebung an der Gedenktafel für die Opfer der Verbrechen des Nationalsozialismus auf dem Starnberger Kirchplatz statt. Dort werden unter anderem die Schülerinnen und Schüler, die im vergangenen Jahr die Gedenktafel initiiert haben, ihre Gedanken mit den Menschen auf dem Kirchplatz teilen. Im Anschluss an das Gedenken lädt die Stadt Starnberg zu einem Empfang mit einer Ausstellung über die Ermordung Kranker und Menschen mit Behinderung im Nationalsozialismus in das Foyer der Schlossberghalle. Um 19 Uhr führt die Theatergruppe des Ernst-Mach-Gymnasiums aus Haar das Stück "Stimmen" auf. Dieses setzt sich intensiv mit den Schicksalen der Opfer der Euthanasie-Verbrechen auseinander.
Unter dem Titel "A Mentsh is a Mentsh" wird in Miesbach an die Übergriffe auf Synagogen erinnert. Um 19 Uhr beginnt die Gedenkveranstaltung in der Portiunkulakirche.
In Rosenheim werden sich Bürgerinnen und Bürger in Gedenken an die Pogromnacht 1938 treffen und die Stolpersteine in der Stadt putzen. Treffpunkt ist um 18 Uhr vor dem Geschäft C&A. Nach dem Reinigen der Stolpersteine hat die "Initiative Erinnerungskultur" um 19 Uhr eine Gedenkveranstaltung an die Zerstörung des Geschäftes der Familie Westheimer durch die Nazis organisiert.
Im Video: "Inside Pogromnacht" - Digitales Gedenk-Projekt
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