Nach der Bundestagswahl 2021 dauert es 73 Tage, bis die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP die Arbeit aufnimmt. Zum Vergleich: Die Vorgängerregierung aus CDU/CSU und SPD brauchte dafür 171 Tage. Die Ampel startet diszipliniert, verhandelt geräuschlos in Kleingruppen 271 größere Vorhaben in einen Koalitionsvertrag mit dem Titel "Mehr Fortschritt wagen". Die Beteiligten gehen dafür Kompromisse ein, verzichten auf ein Tempolimit und auf Steuersenkungen. Viele sehen einen neuen Stil am Werk.
Viel Geld für die Bundeswehr
Als Russland im Februar 2022 die Ukraine überfällt, steht die Ampel vor ganz neuen Aufgaben. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigt in seiner Zeitenwende-Rede im Bundestag ein Sondervermögen für die Bundeswehr an und stärkt damit erstmals seit Jahrzehnten Deutschlands Verteidigungsfähigkeit. Erstaunlich klar stellen sich auch die im Kern pazifistischen Grünen und SPD-Linken hinter Waffenlieferungen für Kiew. In der Folge liefert die Regierung immer neue Waffensysteme. Immer wieder zögert der Kanzler, was den Ton zwischen den Koalitionspartnern rauer werden lässt.
Gas aus neuen Quellen
Gleichzeitig organisieren Kanzler Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck (B.90/Grüne) Alternativen zur russischen Gasversorgung, von der Deutschland seit Jahrzehnten abhängig ist. Industrie, Wirtschaft und CDU/CSU zeichnen düstere Szenarien von abgeschalteten Kraftwerken, Stromausfällen im Winter und frierenden Rentnern. Es kommt anders. Flüssiggasterminals werden in Windeseile maximal unbürokratisch vor die Küsten geschifft. Die Bevölkerung spart im Winter rund 20 Prozent des Gasverbrauchs und die Bundesregierung unterstützt mit Energiepreisbremsen für Strom und Gas.
Das hat die Ampel erreicht
Über die Notmaßnahme hinaus hat die Ampel rund ein Viertel der 271 größeren Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag bis Anfang November umgesetzt (Quelle: "Frag den Staat"). Der Ausbau der Windenergie wurde deutlich vorangebracht, wenn auch nicht in Bayern. Dafür gibt es hier mehr Photovoltaik. Der Anteil der Erneuerbaren Energien am Strommix lag im ersten Halbjahr 2024 bei rund 62 Prozent, 2021 waren es noch rund 44.
Besonders viel wurde im Bereich Arbeit und Soziales umgesetzt: Die Ampel hat den Mindestlohn auf 12 Euro und das Bafög angehoben. Hartz IV durch das Bürgergeld ersetzt. Sie hat das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen aufgehoben und ein "Selbstbestimmungsgesetz" durch den Bundestag gebracht. Das 49-Euro-Ticket stand zwar nicht im Koalitionsvertrag, war aber eine kleine Sensation: Seit vergangenem Jahr erlaubt es, über – bis dahin heilige – Verkehrsverbundgrenzen hinweg, von der Zugspitze bis zur Ostsee zu fahren.
Heizungsgesetz ändert die Tonlage
Der Moment, in dem sich die Tonlage in der Ampel massiv verschärft, ist der, als eine frühe Fassung des Heizungsgesetzes im Februar 2023 öffentlich wird. Nicht nur die Opposition, auch die FDP läuft Sturm gegen den Plan des Bundeswirtschaftsministers, dass ab 2024 möglichst jede neue Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden muss.
Was Erneuerbare sind, das steht da nicht. Es lässt viel Raum für Schreckensbilder. Und dann will die Ampel nach langem Streit auch noch eine abgeschwächte Form im Schweinsgalopp vor der Sommerpause durch den Bundestag bringen. Das wird vom Bundesverfassungsgericht gestoppt. Das Gesetz kommt nach der Sommerpause. Die Stimmung ist da bereits vergiftet.
Ende eines "Buchungstricks"
Kurz darauf kippt das Bundesverfassungsgericht die Grundlage vieler Ampelvorhaben: die Finanzierung des Klima- und Transformationsfonds (KTF). Geld, das ursprünglich für Corona-Hilfen geplant war, darf nicht für andere Zwecke eingesetzt werden. Die Union hatte das schon lange als "Buchungstrick" bezeichnet und erfolgreich geklagt.
Sollbruchstellen treten zutage
Die E-Auto-Prämie wird im Dezember vergangenes Jahr von einem Tag auf den anderen durch das grüne Habeck-Ministerium gestoppt. Das wiederum lässt die E-Auto-Zulassungen einbrechen, was Verkehrsminister Volker Wissing, damals noch FDP, in Bedrängnis bringt.
In der Automobilbranche verdunkeln sich die Aussichten. Nun wird es ungemütlich in der Ampel. Am Ende geht es um zwei Sollbruchstellen, die FDP und SPD/Grüne unterschiedlich beantworten: Soll die Schuldenbremse ausgesetzt werden für die Ukraine-Hilfen? Und soll der Staat Geld geben oder Freiraum zum Investieren?
Das Ende eines neuen Stils
Aus der Endzeit der Großen Koalition waren wir Journalisten gewohnt, dass Informationen aus vertraulichen Gesprächen quasi in Echtzeit in den Redaktionen vorlagen. Als die Ampel sondierte, war es vorbei mit dem Informationsfluss. Kaum etwas drang nach draußen, bis man gemeinsam etwas präsentierte.
Ein wahrhaft neuer Stil, von dem am Ende offenbar nichts mehr übrig ist: Das Angebot von Finanzminister Christian Lindner (FDP) für Neuwahlen am Mittwochabend im Koalitionsausschuss wird nur wenige Sekunden später von einer Tageszeitung verbreitet. Später wird bekannt, das sei ein Grund, warum der Kanzler ihn rausgeworfen habe.
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Im Video: Ampel-Aus – Was wird aus den Projekten? (8.11.2024)
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