Der bayerische Verfassungsschutz bietet Schulungen zum Thema Radikalisierungsprävention an.
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Referent Bora Sari erklärt Leiterinnen von Integrationskursen für Geflüchtete den Unterschied zwischen Islam und Islamismus.

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Früherkennung von Islamismus: Bayern setzt auf Zivilgesellschaft

Früherkennung von Islamismus: Bayern setzt auf Zivilgesellschaft

Nach den jüngsten Anschlägen in Solingen, München und Villach stellt sich einmal mehr die Frage, wie Radikalisierung frühzeitig erkannt werden kann. Der bayerische Verfassungsschutz will gesellschaftliche Akteure mit Schulungen sensibilisieren.

Über dieses Thema berichtet: Bayern 2 Die Welt am Morgen am .

Irgendetwas scheint sich zu verändern: Ein Nachbar verweigert plötzlich den Handschlag mit Nicht-Muslimen, äußert sich abwertend über Juden, Christen, Atheisten oder Homosexuelle oder konsumiert gewaltverherrlichende Videos am Handy. In solchen Momenten sollten Menschen auf ihr Bauchgefühl hören, sagt Bora Sari, Referent der Präventionsstelle Islamismus des bayerischen Verfassungsschutzes: "Sollten Sie, privat oder beruflich, in der digitalen oder realen Welt, genau so einen Verdachtsmoment feststellen, oftmals sind es vielleicht genau Sie, ohne Polizei oder Verfassungsschutz, die exklusiv etwas feststellen."

Bora Sari spricht zu Leiterinnen von Integrationskursen für Geflüchtete und ermutigt sie, sich mit Hinweisen an Experten des Verfassungsschutzes oder zivilgesellschaftliche Organisationen zu wenden. Diese Schulung in einer Nürnberger Behörde soll helfen, Radikalisierungsmuster frühzeitig zu erkennen.

Im BR24-Gespräch sagt Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide von der Universität Münster: "Wenn wir von Prävention sprechen, müssen wir uns an erster Stelle ins Bewusstsein rufen, dass das Problem nicht dann beginnt, wenn die Bombe hochgeht."

Soziale Medien regulieren?

Radikalisierung sei ein Prozess, der nicht geradlinig verläuft. In der Forschung wird von begünstigenden Rahmenbedingungen gesprochen, wie Orientierungslosigkeit, Frustration oder ein problematisches Umfeld. Religionspädagoge Khorchide: "Die jungen Menschen erreicht man hauptsächlich über Social Media mit einer stark emotionalisierenden Sprache, die sagt, wir müssen zusammenhalten, weil der Westen uns diskriminiert. Solche Begriffe wie antimuslimischer Rassismus werden inflationär verwendet in diesen Kreisen, um zu vermitteln: Wir haben ein Feindbild da draußen, das ist westliche Gesellschaft."

Angesichts des jungen Alters der Täter wünscht sich der Wissenschaftler daher Zugangsbeschränkungen. Man müsse überlegen, ob die Altersgrenze für bestimmte Plattformen wie TikTok und Instagram angehoben werden könne, so Korchide. Er fordert außerdem Moscheegemeinden, Schulen und Sozialarbeiter dazu auf, eine positive Gegenerzählung zu vermitteln: Von einem weltoffenen Islam, der mit demokratischen Werten vereinbar ist.

Neue Art der Radikalisierung

In Bayern gibt es laut Verfassungsschutz rund 4.200 Menschen, die radikales islamistisches Gedankengut verbreiten, 79 seien offen gewaltorientiert.

Der ARD-Terrorismusexperte Holger Schmidt erklärt, früher hätten Terroristen in großen Teams komplexe Pläne geschmiedet, heute aber fänden sich Versatzstücke islamistischer Ideologie im Netz. Darin werde empfohlen, Alltagsgegenstände wie Autos oder Messer als Waffe zu verwenden. Schmidt beschreibt im BR24-Interview die neue Art der Radikalisierung so: "Das hat eben dazu geführt, dass Einzelne das alles konsumieren können, ohne jemals irgendwo in einem Terrorgebiet gewesen zu sein, ohne jemals irgendeinen Terrorführer gesehen, irgendeinen Treueeid abgelegt haben. Die können einfach anfangen, und das ist ein ganz, ganz großes Problem."

Bora Sari und seine Kollegen vom Verfassungsschutz schulen daher neben Sozialarbeitern auch Juristen, Psychologen und Polizisten. Mehrsprachige Experten könnten Hinweise einordnen, im Zweifel Spezialisten für Deradikalisierung hinzuziehen. Solch professionelle Hilfe ist offenbar dringend nötig. Holger Schmidt sagt: "Ich habe manchmal den Eindruck, dass in der deutschen Öffentlichkeit und ehrlicherweise auch bei Ermittlungsbehörden so ein Denken herrscht, dass das mit den islamistischen Vereinigungen so ein bisschen ist wie mit den Fußballvereinen. Da wird dann gefragt, bist du beim IS oder bist du bei Al-Qaida? Und man denkt, das ist so eine Entscheidung wie die Löwen oder der FC Bayern."

Sensibilisierung im Alltag

Bei der Schulung wird stundenlang über den Unterschied von Islam und Islamismus gesprochen, über Propaganda im Netz und die Anfälligkeit von jungen Menschen für solche Erzählungen. Die Teilnehmerinnen der Schulung nehmen wichtige Erkenntnisse mit: "Mit Sicherheit noch aufmerksamer sein. Erstmal schauen, was das für eine Person ist. Vielleicht einfach mal vorsichtig nachfragen. Und wenn dann weiter der Verdacht besteht, lieber zu viel melden als nicht zu melden."

Dem Referenten von der Präventionsstelle Islamismus ist es wichtig, für das Thema Radikalisierung zu sensibilisieren, ohne dabei bestimmte Bevölkerungsgruppen zu stigmatisieren. Es seien vor allem Menschen in der Zivilgesellschaft, die potenzielle Attentäter frühzeitig erkennen könnten. "Weil Sie im Alltag vielleicht mit Menschen interagieren, die wir allein rechtlich gar nicht im Fokus haben können", sagt Sari.

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