Lange galt die Nato als Sicherung europäischer Verteidigung. Nun ist alles anders: Der US-Präsident hält vom transatlantischen Bündnis wenig.
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Lange galt die Nato als Sicherung europäischer Verteidigung. Nun ist alles anders: Der US-Präsident hält vom transatlantischen Bündnis wenig.

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Deutschlands Verteidigung: Der Wettlauf gegen die Zeit

Deutschlands Verteidigung: Der Wettlauf gegen die Zeit

Zu wenige Soldaten, kaum Munition und eine tickende demografische Zeitbombe. Experten warnen: Die Zeit wird knapp, um Deutschlands Verteidigung aufzubauen und unsere Art zu leben zu sichern. Braucht es künftig gar atomare Abschreckung?

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

Das Wichtigste, damit sich Deutschland wieder gegen Feinde von außen wehren könne, sei das Mindset, erklärt Stefan Thumann.

"Da rede ich nicht einmal von Geld oder Personal oder Waffen, sondern tatsächlich davon, dass den Menschen wieder ins Bewusstsein kommt, dass wir bedroht werden, dass unsere Art zu leben bedroht wird, dass unser Wohlstand bedroht wird." Stefan Thumann, Donaustahl GmbH

Bis dahin seien alle anderen Bemühungen, verteidigungsfähig zu werden, von vornherein vergeblich, denn sie stoßen in seiner Erfahrung noch immer auf Hürden, Skepsis und Ablehnung.

"Whatever it takes"?

Für Thumann ist längst Alltag und Geschäftsmodell, was anderen Teilen der Gesellschaft nicht klar ist: Er ist Gründer des Rüstungs-Start-ups Donaustahl. Sein Unternehmen produziert Kamikazedrohnen für den Einsatz in der Ukraine.

Während Europa Weckruf um Weckruf erreicht, und der voraussichtliche neue Kanzler Friedrich Merz (CDU) ein "Whatever it takes" für die Verteidigung fordert, stellt sich die Frage: Kann Deutschland überhaupt verteidigungsfähig werden?

Zum Video: "Rüstung, Wehrpflicht, Atombombe: Wie können wir uns wehren?"

Die Fakten: ernüchternd

Experten schätzen, dass Deutschland einen Krieg wie in der Ukraine mit derzeitigen Möglichkeiten lediglich wenige Tage durchhalten könnte. "Wir haben erschreckend geringe Kapazitäten an Munition", warnt Thumann im BR24-Interview.

Neben leeren Lagern bietet die Demografie Anlass zur Sorge. Denn die Bundeswehr soll gemäß Nato-Plänen von derzeit 181.000 um weitere 75.000 Soldaten aufgestockt werden. Selbst das reicht nur, wenn die Reserve ausreichend bestückt wäre, mahnt Thumann: "Eine effiziente Gesamtverteidigung umfasst die militärische Reserve." Diese sei in den vergangenen Jahrzehnten ausgeblutet und links liegen gelassen worden.

Derzeit befinden sich in Deutschland etwa 34.000 Menschen in der Reserve.

Kommt die "Wehrpflicht very light"?

Doch woher sollen zusätzliche militärische Kräfte kommen? Bis 2036 gehen fast 20 Millionen Menschen in Rente – während nur 12,5 Millionen Jüngere nachrücken. Das hat eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft ermittelt. Eine demografische Katastrophe für den Arbeitsmarkt – und auch für die Verteidigung.

Die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht steht seit inzwischen drei Jahren wieder im Raum.

Um benötigte Kapazitäten zu decken, werde es "sehr wahrscheinlich wieder eine Form von Pflicht brauchen", prognostiziert auch Sicherheitsexpertin Aylin Matlé von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Doch selbst wenn sie in bisheriger oder angepasster Form käme: Von den rund 82 Millionen Einwohnern Deutschlands haben über 14 Millionen keine deutsche Staatsbürgerschaft – und können der Bundeswehr gemäß Voraussetzungen derzeit nicht beitreten.

Personal, Zeit, Munition – und auch Geld fehlt

Fest steht: Die Zeit drängt. Trump fordert, Europa solle sich selbst um die Ukraine kümmern. Putin setzt seine Aggressionen fort. Die Weckrufe werden lauter.

Während die Politik die Verteidigungsfähigkeit bis 2029 anvisiert, schlägt Thumann Alarm: "Das ist viel zu spät. Wir hätten bereits 2023 verteidigungsfähig sein müssen." Darum müsse Deutschland noch in diesem Jahr bereit sein. Geld könnte helfen, doch hier prallen politische Welten aufeinander. CDU und SPD wollen die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben aussetzen und ein 500-Milliarden-Sondervermögen schaffen.

"Ohne Geld können keine neuen Fähigkeiten eingekauft oder entwickelt werden", betont Matlé. "Es geht nicht nur um Kampfpanzer oder Artilleriegeschütze, sondern um Investitionen in Militärforschung für die Kriegsführung der Zukunft."

Deckung suchen unter Frankreichs atomarem Schutzschirm?

Seit US-Präsident Trump damit droht, Europa sich selbst zu überlassen, drängt zunehmend die Frage nach atomarer Abschreckung für Europa in den Vordergrund: Friedrich Merz (CDU) erwägt, sich an einem europäischen Nuklearschutz, etwa durch Frankreich, zu beteiligen. Braucht Deutschland für eine effektive Verteidigungsstrategie gar eigene Nuklearwaffen?

Matlé warnt vor eigenen deutschen Atomwaffen: "Das würde völkerrechtliche, politische, also wirklich enorme Konsequenzen nach sich ziehen." Atomwaffenbesitz unterliegt internationalem Recht: Wie beinahe alle Länder hat auch Deutschland den globalen nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) unterzeichnet. Dieser Atomwaffensperrvertrag verpflichtet die Kernwaffenstaaten, die bereits vor der Unterzeichnung 1968 Nuklearwaffen hatten (USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien) zur vollständigen nuklearen Abrüstung. Im Gegenzug verzichten Nichtkernwaffenstaaten wie Deutschland auf den Erwerb von Nuklearwaffen.

Stattdessen plädiert die Sicherheitsexpertin für verstärkte europäische militärisch-konventionelle Zusammenarbeit: "Deutschland alleine kann nicht verteidigungsfähig sein."

Aylin Matlé und Stefan Thumann sind sich einig: Deutschlands Verteidigungsfähigkeit muss eine höhere Priorität beigemessen werden. "Wenn wir unsere Freiheit, wenn wir unsere Sicherheit gewährleisten wollen, dann führt leider kein Weg daran vorbei", sagt Matlé.

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