Mann mit schmalem Gesicht und dunkelblonden, kurzen Haaren und einer transparentfarbenen Kunststoffbrille: Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft
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Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft

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Ökonom Hüther fordert Reform der Schuldenbremse

Ökonom Hüther fordert Reform der Schuldenbremse

Deutschlands Infrastruktur ist in keinem guten Zustand – das hat der Einsturz der Carolabrücke in Dresden deutlich gemacht. Auch in Bayern sind viele Bauwerke marode. Ein Grund: Sanierungsstau. Ökonomen fordern, schnellstens Geld zu investieren.

Über dieses Thema berichtet: Possoch klärt am .

600 Milliarden Euro: So viel müssten in Deutschland in den kommenden zehn Jahren investiert werden, um die Infrastruktur auf aktuellen Stand zu bringen. Zu diesem Ergebnis kommt eine gemeinsame Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft und der Hans-Böckler-Stiftung [externer Link]. IW Direktor Michael Hüther bringt dafür eine Reform der Schuldenbremse ins Spiel.

Im BR24-Interview für "Possoch klärt" (Link oben, Video unten) erklärt er, warum Deutschland jetzt investieren muss und dafür auch neue Schulden kein Tabu mehr sein sollten.

BR24: Eine Idee ist, den Sanierungsstau in Deutschland aufzulösen mithilfe eines Investitionsfonds, ähnlich dem Sondervermögen, mit dem nun Ausgaben für die Bundeswehr finanziert werden.

Michael Hüther: Die Überlegung ist, dass man das nicht im normalen Haushalt abbilden kann, diese zusätzlichen 600 Milliarden, sondern in einem Infrastruktur- oder Transformationsfonds, wie immer man den nennen mag, der analog zum Bundeswehr-Sonderhaushalt im Grundgesetz verankert wird. Und so die Schuldenbremse ansonsten unverändert bleibt, aber hier ein Freiraum geschaffen wird, um dieses Nach-Investieren – so muss man es ja nennen – und Ertüchtigen der Infrastruktur wirklich möglich zu machen. Wir brauchen Verlässlichkeiten, das zeigen auch immer wieder die Gespräche mit der Bauindustrie und der Bauwirtschaft, die sagen, wir müssen natürlich auch dann investieren in unsere Kapazitäten.

Im Video: Alles marode und kaputt - Ist Deutschland noch zu retten? Possoch klärt!

Kinder sitzen in Schulen, "wo ein normaler Arbeitnehmer längst die Gewerkschaft rufen würde"

BR24: Wir haben in Deutschland aber eine Schuldenbremse, das heißt, wir können ja nicht einfach so neue Schulden machen.

Hüther: Das Staatsschulden-Recht kann man nicht umgehen, das sollte man auch nicht, aber man kann es aber durchaus ändern. Das wäre die eine Möglichkeit: indem man eine Investitionsklausel in die Schuldenbremse einbaut. Und ich würde auch alles, was da drinsteht, mit einer Planungs- und Verfahrensbeschleunigung kombinieren, sodass das Geld auch wirklich auf die Straße kommt.

BR24: Damit könnte man auch das Bildungssystem verbessern. Denn marode Schulen sind nicht nur ein Einzelfall aus Augsburg. Überall in Deutschland müssen Eltern die Schulen ihrer Kinder eigenhändig renovieren, damit diese ein einigermaßen angenehmes Lernumfeld haben.

Hüther: Wir muten unseren Kindern, aber auch unseren Lehrerinnen und Lehrern zu, dass sie in Gebäuden agieren, wo ein normaler Arbeitnehmer längst die Gewerkschaft rufen würde und auf den Arbeitsschutz pochen würde. Also auch hier hat sich etwas aufgetürmt.

Ökonom Hüther: "Wir haben über 20 Jahre zu wenig gemacht"

BR24: Sie sagen aufgetürmt. Den Sanierungsstau kann man nicht mehr wegdiskutieren. Wie konnte es denn so weit kommen?

Hüther: Man stellt einfach fest: Wir haben über 20 Jahre deutlich weniger gemacht als die anderen. Und es gab ja auch Warnungen schon vor zehn Jahren und längerer Zeit, dass wir zu wenig tun und dass das ein Problem werden kann. Es ist ignoriert worden, und jetzt haben sie Umkipp-Effekte. Das ist so, als wenn sie zu Hause eine feuchte Wand ignorieren und noch mal drüber pinseln. Das fängt irgendwann wieder an zu müffeln. Und da müssen Sie die ganze Wand aufreißen und eine fundamentale Sanierung ihres Kellers möglicherweise machen, weil sie dann nicht an die Ursachen gehen.

Das erleben wir jetzt. Wir erleben es in allen Infrastruktursystemen – der Qualitätsverfall hält an: Das ist für das Schienennetz so, das ist für die Bundesautobahnen so, das ist für die Bundesfernstraßen so und wir kommen bei der Digitalisierung auch nicht so schnell voran, wie wir eigentlich müssten. Und dazu kommt: Wir haben ja so eine Art Jahrgangs-Problem oder Vintage-Problem, wie die Ökonomen das nennen. Ein Großteil der Infrastruktur ist in einem sehr kurzen Zeitraum, in den 60er und 70er-Jahren gebaut worden.

BR24: Auch für bezahlbare Wohnungen fehlt Geld. Die Hans-Böckler-Stiftung geht in einer Studie davon aus [externer Link], dass in deutschen Großstädten 1,9 Millionen bezahlbare Wohnungen fehlen.

Hüther: Wir haben insgesamt nicht zu wenig Wohnungen. Wir haben diese nur nicht immer da, wo die Menschen gerne wohnen möchten, nämlich in den Städten. Dort ist die Frage, wie entwickle ich neue Stadtteile? Wie binde ich die verkehrstechnisch an? Das heißt, das ist alles so leicht gesagt: Da muss gebaut werden. Es ist ja nicht die Frage, ob ich hier noch mal drei Häuser hinstelle, sondern es geht ja dann wirklich um Konzeptionen.

Aber es ist vor allen Dingen aktuell auch eine Frage der Baukosten. Wir bauen in Deutschland sehr teuer. Sie können einen Quadratmeter Wohnungsbau nicht unter 3.500/4.000 Euro im Grunde erstellen. Da steckt alles Mögliche drin an Auflagen. Und wir haben dann das andere Problem, der Zinserhöhungen. Insofern findet faktisch im Augenblick in Sachen Wohnungsbau nichts statt.

BR24: Danke für das Gespräch.

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