Russland will seine Rüstungsproduktion im kommenden Jahr erheblich steigern, um mehr als 60 Prozent, warnt Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. In einem Interview mit der Welt am Sonntag erklärte er, man müsse Putins derzeitige Drohungen zum Beispiel gegen die baltischen Staaten sehr ernst nehmen – es sei nicht bloß Säbelrasseln. Auf solche Gefahren ist Deutschland derzeit jedoch noch nicht vorbereitet. Der Kreml-Chef gibt sich indes gerade siegessicher und verkündete, der Ukraine gingen Waffen und Unterstützungen des Westens aus.
Im russischen Fernsehen kündigte der russische Präsident zudem an, die Militärpräsenz an der finnischen Grenze erhöhen zu wollen: In der Region um Sankt Petersburg soll ein "Militärdistrikt Leningrad" entstehen, der mit russischen Einheiten besetzt werden soll. Damit reagiert Putin auf ein Abkommen zwischen dem Nato-Neuzugang Finnland und den USA, das den amerikanischen Truppen den Zugang zu finnischen Militärstützpunkten erlaubt.
Wie verteidigungstüchtig wäre Deutschland, sollte Putin einen Angriff auf einen Nato-Mitgliedsstaat wagen?
Trump-Sieg bei US-Wahl 2024 könnte Risikofaktor für Europa werden
Eine der größten Sicherheitsgarantien in Europa bietet der Nato-Beistandsvertrag mit den USA. Doch der aktuelle Zusammenhalt der Nato könnte sich nach den US-Wahlen womöglich im kommenden Jahr sehr ändern, sollte Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt werden. Trump macht seit Jahren keinen Hehl um seine Kritik an der Nato-Mitgliedschaft.
Sicherheits- und Verteidigungsexperte Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations sieht im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) besonders große Gefahr darin, dass ein potenzieller Präsident Trump ab 2024 die Bündnisverpflichtung der Nato politisch untergraben könnte: "Dann ist eine wirklich kritische Situation in der europäischen Sicherheitsordnung erreicht." Denn dann könne Wladimir Putin zu dem Schluss kommen, das Risiko eingehen zu können und ein Nato-Land zu überfallen.
Nico Lange, Sicherheits- und Verteidigungsexperte bei der Münchner Sicherheitskonferenz, sieht die drohende Gefahr eines Angriffs im BR24-Interview ebenso gegeben: "Wir wissen doch, dass Putin die ganze Zeit schaut: Was machen eigentlich die Deutschen, was machen die Europäer? Wenn Putin wittert, dass wir schwach sein könnten, dann wird er versuchen, etwas zu tun."
Europas Verteidigung wäre ohne USA-Unterstützung schwach
Zudem gehen Beobachterinnen und Beobachter davon aus, dass sich die USA in den kommenden Jahren stärker im pazifischen Raum engagieren werden, um ihre Unterstützungszusage an den wichtigen Wirtschaftspartner Taiwan einzuhalten: China hatte angekündigt, Taiwan dem chinesischen Festland angliedern zu wollen. US-Präsident Joe Biden versprach in den vergangenen Jahren wiederholt, dass die USA Taiwan verteidigen würden, sollte China angreifen. Der Fokus der Amerikaner könnte sich in den kommenden Jahren also deutlich verschieben und somit die Intensität der Unterstützungen des Nato-Partners.
Dann stünde den USA mit China ein mächtiges Land gegenüber, und die Prioritäten würden sich vom Schutz des europäischen Raumes in den Pazifik verschieben, schätzt Loss ein: "Aus eigenem Interesse müssten Deutschland, müsste Europa mehr investieren in die Verteidigungsfähigkeit, um auch nur mit einem begrenzten oder vielleicht auch keinem US-Backing gegen einen Aggressor wie Wladimir Putin bestehen zu können. Und dann ist das Ziel, durch Kriegstüchtigkeit abschrecken zu können, um einen Konflikt zu vermeiden."
Verstärkung der Nato-Außengrenzen in vollem Gange
Man befürchte, analysiert Loss, dass Russland mit einer "begrenzten militärischen Aktion" versuchen könnte, "die Nato, die europäischen Nato-Alliierten und die EU politisch auseinanderzutreiben." Darum gilt es, potenzielle Angriffspunkte, wie etwa die sogenannte "Suwalki-Lücke zwischen Litauen und Polen beziehungsweise Kaliningrad und Belarus" zu stärken. "Die Sicherheit des Baltikums ist auch unsere Sicherheit, das ist ganz eindeutig so", fasst auch Sicherheitsexperte Nico Lange zusammen.
Erste Aufrüstungen finden in Deutschlands Nachbarländern bereits statt: Polen hatte angekündigt, seine Armee verdoppeln zu wollen, Finnland verstärkt die Luftabwehr und baut die Grenze zu Russland aus, und Litauen stärkt seine Luftverteidigung. In Litauen sollen ab 2027 auch rund 5.000 deutsche Soldaten die Nato-Ostflanke schützen.
Im Video: Putin-Angriff: Ist Deutschland wehrlos? Possoch klärt!
Wo bleibt die Zeitenwende in Deutschland?
Indes ist in Deutschland selbst von der bereits 2022 angekündigten Zeitenwende noch wenig sichtbar. Obgleich regelmäßig die Bedeutung der Bundeswehr betont wird, sind etwa die Zahlen der Soldatinnen und Soldaten gesunken: von 183.000 im Sommer auf 181.000 am 31. Oktober 2023.
"Ohne Zweifel muss Europa und damit auch Deutschland selber mehr tun." Rafael Loss, European Council on Foreign Relations
Eine Diskussion über eine Dienstpflicht sieht Loss jedoch mit Blick auf den von Pistorius angekündigten kurzen Zeitraum von fünf bis acht Jahren als nicht zielführend, um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands zu stärken. Kurz- bis mittelfristig bedeute das Kapazitätsverlagerungen innerhalb der Bundeswehr: Statt vorhandenes Personal und Material der Kriegstüchtigkeit zuwenden zu können, werden sie benötigt, um die Wehrpflichtigen auszubilden, sagt Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations.
Die wichtigere Diskussion ist für den Sicherheitsexperten jene um Investitionen: In die Verteidigungsfähigkeit muss mehr Geld fließen, denn "wenn man nicht verteidigungsfähig ist, ist man auch nicht abschreckungsfähig". Neben den Ambitionen von Bundesverteidigungsministerium und Bundeswehr, Reformpläne anzustoßen und Beschaffungspläne zu beschleunigen, ist für Loss wichtig, dass diese Pläne künftig auch politisch und finanziell vonseiten des Bundestags und der Bundesregierung unterstützt werden. Die Notwendigkeit hierfür sieht auch die Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Eva Högl, in ihrem Bericht: Wenn die Modernisierung der Bundeswehr in derselben Geschwindigkeit fortschreitet wie bisher, würde sie noch ein halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen.
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